Stellen wir uns einen Raum vor. Dann stellen wir uns vor, in diesem Raum seien sehr dicht gewebte Spinnennetze, dreidimensional, in alle Richtungen gesponnen, in sich verbunden und verknüpft zu allen Wänden, der Decke und dem Boden.
Zugegeben eine Horrorvorstellung für den einen oder anderen.
Stellen wir uns weiter vor, dass wir in diesen Raum eintreten und eine dieser Netze berühren. Die Vibration dieser Berührung würde in jedem Netz, in jeder Faser spürbar und messbar sein. Würden wir das weiße Netz durch die Berührung rot färben, so würde der Raum voller roter Spinnennetze leuchten.
Die Spinnennetze sind die Faszien in unserem Körper.
Die Vibration und Spannungsveränderung ist die Informationsübertragung, einmal mit bis zu 270 km/h durch Nerven und bis zu 1100 km/h durch Zugspannung und Kompressionsübertragung, Chi-Übertragung, die langsamer ist, nicht eingerechnet.
Jede Faser im Körper spürt die Veränderung in einem anderen Teil des Körpers.
Stellen wir uns die Decke als unsere Haut vor und den Boden als Knochen, die Wände als benachbarte Muskelgruppen, dann haben wir ein gutes Bild, dass Faszien nicht nur in eine Richtung verlaufen, wie man denken würde, wenn man die Faszienumhüllungen eines Muskels sieht.
Hier sieht es so aus, als ob z.B. die Oberschenkelmuskeln umhüllt von Faszien sind (= myofasziales Gewebe), die am Oberschenkel bzw. Becken ihren Ursprung und am Unterschenkel ihren Ansatz haben und linear oben wie unten in Sehnen münden.
Jedoch ist unser Raumbild des Spinnennetzes stimmiger nach den neuesten Forschungen.
Das heißt nichts anderes, als dass jede Zugspannung, die in eine Richtung ausgeführt wird, z.B. eine Kontraktion des Oberschenkelmuskels, eine Wirkung in Richtung Hautoberfläche (oberflächliche Faszienschicht), Knochen und Gelenke (tiefe Faszienschicht) und benachbarte Muskelgruppen hat. Ebenso verhält es sich mit Kompressionen.
Das Informationsnetzwerk geht in alle Richtungen und bleibt nicht linear.
Nur für den Moment stellen wir uns dieses Netzwerk als die 72.000 oder 360.000 Energiebahnen des Nadi- oder Sensystems vor. Eine faszinierende Vorstellung?
Jede Bewegung, z.B. wenn wir den Arm heben, hat Auswirkung auf das gesamte Netzwerk des Körpers.
Tensegrity
Unser Bild oder Vergleich hinkt natürlicherweise, da Wände, Decken, Böden natürliche feste unbewegliche Begrenzungen sind.
Das heißt, ein Zimmer kann nicht weglaufen, ein Körper schon.
Unser Körper ist der Kompromiss von Stabilität und Mobilität. Das lässt sich am Besten am Tensegrity Modell erläutern.
Tensegrity heißt, die Integrität eines Objektes durch Spannung herzustellen. Der Begriff kommt ursprünglich aus der Architektur.
Tom Myers wendet es an der Körperarchitektur an. Es verhilft zu einem breiteren Verständnis und schönen inneren Bildern.
Wie wird die Integrität im Körper durch Spannung geschaffen?
Ein Haus wird zwar auch durch Spannung (Stahldrähte oder Druckspannung) aufrecht gehalten, aber doch zum größten Teil durch Kompression. Setze ich beim Hausbau ein Stein auf den anderen bis daraus eine Wand wird, so entsteht Kompression und Festigkeit durch solides Material. Dieses Haus sollte sich danach nur noch im Geringsten bewegen können.
Ein Körper hat auch Kompression, die wir spüren. Zum Beispiel fühlen wir an den Fußsohlen Kompression zum Boden. Die Schwerkraft zieht unser Körpergewicht auf diese Stellen.
Allerdings wird unser Körper durch Zugspannungen der Muskeln und Faszien in einer aufrechten Position gehalten, und diese Spannung bietet die Möglichkeit der Mobilität.
Raum mit Säulen
Stellen wir uns einen Raum vor der ohne Wände, ohne Boden und ohne Decke auskommt. Er besteht nur aus Säulen und festen aber flexiblen Zugbändern, die alle Säulen miteinander verbinden.
Wird Druck auf diese Konstruktion ausgeübt, so verteilt sich der Druck auf alle Zugbänder, und die Konstruktion gibt flexibel nach. Nimmt man den Druck wieder weg, weitet sich die Konstruktion zurück in ihre ursprüngliche Form.
Wird ein Teil der Konstruktion gedehnt, so verteilen sich auch hier die Zugkräfte auf alle Bänder. Nimmt man den Zug wieder weg, dann kommt auch hier die Konstruktion wieder zurück in ihre ursprüngliche Form.
In einer solchen Konstruktion ist nichts unabhängig voneinander. Die Konstruktion bricht, wenn überhaupt am schwächsten Glied, meist nicht an der Stelle, an der Kompression oder Spannung ausgelöst wird.
Solch eine Konstruktion ist unser Körper, stabil und mobil und immer als eine Einheit anzusehen.
Die Säulen sind unsere Knochen. Sie sind „aufgehängt“ an Bänder (die Knochen und Knochen verbinden), Kapseln (die Umhüllungen unserer Gelenke – verbinden ebenfalls Knochen mit Knochen), Sehnen (verbinden myofasziales Gewebe mit Knochen), das myofasziale Gewebe (myo=Muskel + faszial = Faszienhüllen = die ebenso in der Gesamtheit Knochen mit Knochen verbinden und Bewegung möglich machen durch Kontraktion und Dehnung, aber auch Stabilität durch Spannungszüge geben).
Kein anderes Gewebe unseres Körpers würde unser Erscheinen und unsere Form besser widerspiegeln, als das Fasziengewebe, würde man alle anderen Gewebe wegnehmen. Absolut faszinierend!
Wird Druck, z.B. durch Schwerkraft auf unseren Körper ausgeübt, so verteilt sich der Druck auf alle Zugbänder,, wie beim Stehen oder Gehen. Nimmt man den Druck wieder weg, weitet sich die Konstruktion zu ihrer ursprünglichen Form.
Bewege ich nur ein Bein, so möchte man meinen, dass das andere Bein, das ruhig bleibt, nicht stimuliert wird. Dies ist jedoch nicht der Fall. Sobald ich einen Zug in einem Teil des Körpers aufbaue, verteilt sich dieser Zug auf alle Bereiche.
Nichts ist unabhängig voneinander.
Und was hat das alles mit einem T-Shirt zu tun?
Neben den Umhüllungen der Muskeln gibt es ganze Schichten von Faszien, die wie Ganzkörperkondome (z.B. oberflächliche Faszien – Unterhautgewebe) durch den Körper verlaufen.
Stellen wir uns ein T-Shirt vor und ziehen am unteren Ende. Wenn wir in einen Spiegel schauen, werden wir feststellen, dass dieser Zug selbst bis in die Ärmel weitergeleitet wurde.
Jede Form der Bewegung wird diesen Effekt innerlich hervorrufen.
Wenn wir einen Teil des Körpers bewegen, stimulieren wir alle Teile des Körpers.
Narben, z.B. durch OPs könnte man auch unter die Kategorie Zugspannung nehmen. Wenn ein Gewebe sich als Narbe zusammengezogen hat, hat es sicherlich Einfluss auf Bereiche, die weit entfernt vom Ursprung liegen.
Ebenso jede Form des längeren Sich-Nicht-Bewegens stimuliert ein Zusammenziehen der Faszien, macht sie trockener, spröder, anfälliger für Verletzungen und Degeneration und durch das ungenügende Ableiten der Giftstoffe im Gewebe einfach „krank“.
Wenn wir mit einem T-Shirt im Matsch waren und einfach nur in die Ecke legen und es nicht bewegen, wird es ebenso seine Ursprungsform und Schönheit nicht einfach so wieder erlangen.
Wenn ein T-Shirt dreckig ist, was tun wir?
Wir weichen es ein, wir rubbeln es, um den Dreck herauszuwaschen, und danach ist es sauber. Wir ziehen das Gewebe, damit es seine Form wieder erhält und hängen es auf.
Im Yin Yoga arbeiten wir mit Kompression & Spannung, um diese Stimulationen in unseren Geweben herzustellen, es zu befeuchten, zu entgiften, Zellregeneration zu erreichen, Wassermoleküle und Fasern zu reorganisieren, flexible und starke Faszien zu generieren und Gelenke zu mobilisieren.
Jedoch müssen wir, um diese Stimulation zu erreichen, nicht an unser Limit gehen. Wir würden sicherlich auch nicht unser T-Shirt jedes Mal in aller Härte beim Waschen rubbeln oder bis ans Zerreißen, dehnen bevor wir es aufhängen?
Wir suchen im Yin Yoga den Weg der Mitte, weder zu viel noch zu wenig Stimulation.
Zur Erhaltung der Mobilität und Gesundheit bis ins hohe Alter, was einer der Gründe sein kann, Yoga zu praktizieren, stimulieren wir das Spinnennetzwerk in seiner Gesamtheit und lassen es rot leuchten. Wir ziehen, rubbeln, drücken es, bis es sich gut anfühlt.
Viel Spaß dabei!
Namasté